Während der vorösterlichen Bußzeit durften wir heuer in der Pfarrkirche Vinaders ein bewegendes Angebot von unserem Dekan Gabriel in Anspruch nehmen: wir begleiteten an fünf Abenden Josef aus dem Alten Testament auf seinem Weg der Versöhnung mit seiner Familie, wodurch sich auch für jede/n von uns Möglichkeiten für unseren eigenen Weg der Versöhnung auftaten.
Die Geschichte von Josef eignet sich deshalb so wunderbar für diesen Weg, da in ihr wohl die ganze Bandbreite der Gefühle enthalten ist, die uns selbst im zwischenmenschlichen, im familiären Bereich laufend begegnen. Im Kern der Geschichte steht die Bevorzugung eines Geschwisterteils durch die Eltern, verursacht durch Altlasten in der Familiengeschichte. Diese Bevorzugung äußert sich nicht zuletzt im Gewand Josefs, welches sein Vater Jakob ihm schenkt. Dadurch entstehen bei seinen Brüdern Eifersucht und Hass, ebenso wie Gefühle der Zurückweisung, Hilflosigkeit, Sprachlosigkeit, innerer und äußerer Distanz, des Verletztseins, fehlender Liebe, fehlender Aufmerksamkeit und fehlender Zuwendung. So tiefe Spuren hinterlassen diese Emotionen in den Brüdern, dass sie sogar Mordpläne gegen ihren Bruder Josef schmieden, von denen sie letztlich nur Gewissensbisse einzelner abhalten. Stattdessen werfen sie ihn zuerst in einen ausgetrockneten Brunnen und verkaufen dann ihren eigenen Bruder wie eine Ware an vorbeiziehende Händler. Dem Vater erzählen sie eine Lüge, dass Josef von wilden Tieren gefressen wurde, und hoffen, nun endlich selbst vom Vater gesehen zu werden. Doch auf hasserfülltes Handeln kann keine Liebe folgen; ihr Plan scheitert, der Vater bevorzugt nunmehr den jüngsten Bruder Benjamin.
Josef selbst erlebt indes, wie jede/r von uns, Höhen und Tiefen, Aufstieg und Fall, Versuchungen und wiederum Verrat und Lügen. Doch Josef vertraut stets auf Gott, damit dieser all seine Verletzungen heilt. Sein unerschütterliches Gottvertrauen und seine gottgegebene Fähigkeit, Träume zu deuten, führen ihn schließlich aus dem Kerker heraus bis an den Hof des Pharaos. Dort widerfährt ihm Glück in Form von Wohlstand und einer eigenen Familie, und er meint, alle vergangenen Enttäuschungen und Konflikte mit seiner Herkunftsfamilie hinter sich gelassen zu haben, auch wenn diese nie ausgesöhnt wurden. Als seine Brüder jedoch plötzlich, ohne ihn zu erkennen, vor ihm stehen und um Getreide bitten als Hilfe gegen die Hungersnot, welche Josef vorhergesagt hat, treten alle vergessen geglaubten Gefühle wieder unvermindert ans Tageslicht.
Josef stellt seine Brüder auf die Probe, um herauszufinden, ob sie ihre Schuld einsehen, Reue empfinden und sich geändert haben. Als sie für Benjamin, den neuen Liebling ihres Vaters, schließlich geschlossen einstehen, um dessen vermeintliche Schuld zu sühnen, gibt Josef sich zu erkennen, und es ebnet sich für alle allmählich der Weg der Versöhnung. Josefs unbeirrbares Vertrauen in Gottes gute Absicht für jeden Menschen, durch die Gott selbst jedes Unrecht in eine Gelegenheit für Sein heilvolles Handeln verwandeln kann, ermöglicht es Josef schließlich, seinen Brüdern aus tiefstem Herzen zu vergeben.
Der Weg der Versöhnung beginnt mit dem Eingeständnis der eigenen Schuld und führt über Zeichen der Umkehr. Wo lasse ich mich zu übler Nachrede oder Eifersucht hinreißen? Wo bevorzuge ich andere? Welche Altlasten vergangener Generationen trage ich mit mir herum, und wie kann ich sie ablegen? Wem kann ich mich anvertrauen, wer sich mir? Wer ist für mich da, für wen bin ich da? Vor welcher Wahrheit verschließe ich die Augen? Was möchte ich am liebsten in die Dunkelheit des Brunnes werfen? Welchen Versuchungen sehe ich mich ausgesetzt, welchen gebe ich nach, wie kann ich mich ihnen widersetzen? Bei welchen Gelegenheiten mache ich mich durch zu langes Zögern, das offensichtlich Richtige zu tun, zum/r Mittäter/in? Wie steht es mit meinem Gottvertrauen, in guten, in schweren Zeiten? Was habe ich in meinem Herzen „abgeschlossen“, was eigentlich versöhnt werden will? Wo bin ich schuldig geworden, welche Zeichen der Umkehr muss ich setzen, um vollständige Versöhnung zu ermöglichen? Hindert mich etwas daran, einem Mitmenschen zu vergeben? Worum möchte ich Gott bitten, damit dieser Schritt möglich wird?
Solch schwierige Fragen stellte Gabriel uns entlang des Weges der Versöhnung, und während der Anbetung vor dem Allerheiligsten in der abgedunkelten Kirche hatte man so ohne jeden Zweifel einiges zum Nachdenken. Der Wohlgeruch des Weihrauchs und die wundervolle Klaviermusik, die Gabriel über die Lautsprecher ertönen ließ, versetzten in einen Zustand tiefer Meditation, welche tiefgreifende Auseinandersetzung mit diesen Fragen ermöglichte.
So konnten wir von Josef letztlich lernen, wie sehr Gottvertrauen helfen kann, Kränkungen und Unrecht ohne Gefühle von Hass, Rache oder Selbstmitleid zu ertragen und, aller Aussichtslosigkeit zum Trotz, am Ende eine Aussöhnung zu ermöglichen. Was wir außerdem mitnehmen konnten, für viele wahrscheinlich nicht neu, aber dennoch immer wieder aufs Neue bemerkenswert: unser Dekan Gabriel ist imstande, auch anhand von vergleichsweise wenigen Worten mit graziöser, beinahe spielerisch erscheinender Leichtigkeit die Herzen seiner ZuhörerInnen aufs Tiefste zu berühren und dadurch etwas zum Klingen zu bringen, was bisher in der Dunkelheit des Brunnens, mehr oder weniger bewusst, scheinbar abgeschlossen und friedlich schlummerte.
Alles, was uns bewegt und was ausgesöhnt werden möchte, können wir beim Abend der Barmherzigkeit in St. Jodok, welcher den Abschluss dieses Weges der Versöhnung in der Fastenzeit bildet, vor Gott tragen und uns bei der anschließenden Beichtmöglichkeit in einem Gespräch von der Seele reden. Jede und jeder einzelne ist dazu auf das Herzlichste eingeladen.
Text und Bilder: Stefanie Strickner